einzigNaht macht maßgeschneiderte Kleidung für behinderte Kinder
Selten verlief ein Pitch so emotional wie beim Businessplanwettbewerb Gründergeist vor ein paar Wochen. Der Auftritt von Sandra und Christian Brunner bewegte und wurde mit dem ersten Platz belohnt. Dies ist die Geschichte des Startups einzigNaht, seines Gründerpaars und der kleinen Laura.
Obwohl Laura zwei Wochen nach dem prognostizierten Stichtag auf die Welt kam, war sie kleiner als üblich, kaum größer als ein Frühchen. Etwas war anders bei diesem Kind, das war den Eltern Sandra und Christian Brunner schnell klar. Laura schrie bis zu zwölf Stunden am Tag, hatte schwere Essstörungen, übergab sich häufig und konnte Veränderungen und ungewohnte Situationen nicht ertragen. Ein normales Sozialleben war mit ihr praktisch nicht möglich. Sandra musste sich permanent um ihre Tochter kümmern und fühlte sich zunehmend isoliert.
Die Kinderärztin in ihrem Heimatort Bad Ems konnte bei Laura nichts Konkretes feststellen, stattdessen stand der Vorwurf im Raum, die Brunnern könnten schlechte Eltern und am Verhalten Lauras schuld sein. Eine gründliche Untersuchung in einer Klinik im nahegelegenen Koblenz sollte Klarheit verschaffen. Das Ergebnis: Laura war organisch gesund, für ihr Verhalten gab es zu diesem Zeitpunkt keine medizinische Erklärung. Immerhin erhielten die Brunners jetzt soziale Betreuung.
Der Umzug nach Hamburg hat vieles verändert
Mit einem solchen Kind umzuziehen ist ein Höllenritt. Die Familie, zu der auch die große Schwester Yasmina gehört, wagte es trotzdem. Christian bekam einen Job in Hamburg angeboten. Die Stadt hatte die Brunners schon immer gereizt, also machten sie sich auf die Suche nach einer Wohnung und wurden in Bergedorf fündig. Der Umzug war eine Entscheidung, die ihr Leben zum Positiven veränderte. Jetzt lernten sie, auch mal runterzuschalten und angemessen mit ihren Lebensumständen umzugehen. „Man darf ruhig sagen, dass das manchmal scheiße ist mit einem behinderten Kind“, formuliert es Sandra unverblümt. Manche Paare zerbrechen an so einer Situation, Sandra und Christian hat sie zusammengeschweißt.
Dass Laura tatsächlich behindert ist, steht Anfang 2018, gut zwei Jahre nach ihrer Geburt, endgültig fest. In Hamburg hatten die Brunners eine Kinderärztin gefunden, die sich das Gesamtbild genau anschaute und ihnen keine Schuldgefühle vermittelte. Endlich entschlossen sie sich zu einem Gentest, zu dem ihnen schon länger geraten worden war. Den hatten sie bisher nicht machen lassen, weil sie sich die Hoffnung nicht nehmen wollten, dass sich Laura doch noch normal entwickelt, auch wenn Sandra nach intensiven Onlinerecherchen schon einen Verdacht hatte.
Die Hoffnung war nun verflogen und der Verdacht bestätigt, denn das Mädchen leidet unter einem seltenen Gendefekt, dem Williams-Beuren-Syndrom (WBS). Die nicht vererbbare Krankheit ist unheilbar, nur einzelne Symptome können behandelt werden. WBS gibt es in unterschiedlichen Ausprägungen, aber kognitive Behinderungen, Entwicklungsdefizite und Essstörungen gehören eigentlich immer dazu. Laura wird vermutlich nie ganz selbständig leben können, ideal wäre wohl eine Wohngruppe.
Facebook hat auch seine guten Seiten
WBS ist zwar selten, aber nicht so selten, dass es nicht eine Facebook-Gruppe für betroffene Eltern gäbe. Diese Gruppe hat sehr dabei geholfen, Lauras Verhalten einzuordnen. Der Austausch mit anderen tröstet in schweren Stunden, und gemeinsam lassen sich auch kleine Triumphe feiern, etwa, wenn ein WBS-Kind zum ersten Mal stressfrei und eigenständig feste Nahrung zu sich nimmt und das auf Video festgehalten wird.
Ein nicht zu unterschätzendes Problem für WBS-Kinder ist die Bekleidung. Für Laura etwas Passendes zu finden ist fast unmöglich. Sie war für ihr Alter immer zu klein und zu schmal, ihre Proportionen sind anders als bei anderen Kindern. Da sie sich oft übergeben und gesabbert hat, musste die Kleidung zudem leicht zu reinigen sein. Von Stoffen versteht Sandra einiges, schließlich hat sie in der Textilbranche gearbeitet. Für ihre Zwecke ideal ist ein Wolle-Seide-Gemisch, das gar nicht so leicht zu bekommen ist. Mit dem Startup Danisch Pur hat Sandra aber den richtigen Lieferanten gefunden.
Jedes Stück hat sein eigenes Schnittmuster
Mit Stoffen kennt sich Sandra zwar aus, nähen und schneidern konnte sie allerdings nicht. Zum Glück gibt es auch dafür eine Facebook-Gruppe und Anleitungen auf YouTube. Bei einem Nähwochenende hat sie sich dann weitere Kenntnisse angeeignet. Ein Knackpunkt sind die handelsüblichen Schnittmuster. Die orientieren sich an den gängigen Größen, die für Laura nicht infrage kommen. Sandra musste feststellen, dass sich diese Schnittmuster auch nicht so einfach ihren Bedürfnissen anpassen ließen, und entwickelte ihre eigenen.
Ursprünglich war die maßgeschneiderte Baby- und Kinderbekleidung nur für den Eigenbedarf gedacht, doch das änderte sich bald. So hatte Sandra für eine Auktion zunächst nur einen Body geschneidert, dann kam die Nachfrage, ob es nicht auch acht sein könnten. Zudem lernte sie Mütter von Kindern mit anderen Behinderungen kennen, die ebenfalls spezielle Kleidung benötigen. Manche Kinder müssen beispielsweise über Sonden ernährt und die Schläuche irgendwie durch die Sachen gezogen werden; praktisch unmöglich bei der im Laden erhältlichen Bekleidung.
Bedarf erkannt, einzigNaht gegründet
Es bestand also eine echte Nachfrage, die bisher kein Anbieter befriedigen konnte. Daher entschlossen sich Sandra und Christian im Sommer ihr eigenes Unternehmen zu gründen: einzigNaht. „einzig“, weil jedes der Stücke ein Unikat ist, und „Naht“, weil die richtige Positionierung und Verarbeitung der Nähte eine große Rolle spielt. Das Maskottchen des Startups ist ein Chamäleon, das auf einer Nähnadel sitzt. Das Chamäleon ist ein Lieblingstier von Sandra, weil es in vieler Hinsicht einzigartig ist. Die kleinste Art wird kaum größer als eine Ameise. Die Reptilien können mit dem einen Auge nach vorn und dem anderen nach hinten schauen und ihre Farbe je nach Gemütszustand ändern.
einzigNaht ist zwar das erste Startup der Gründer, trotzdem bringen sie schon einige nützliche Erfahrungen mit. Sandra kennt sich im Einzelhandel aus, Christian hat BWL mit Schwerpunkt Marketing studiert, seinen Doktor gemacht und schon in England und Ägypten gearbeitet. Zeitweise betrug seine Arbeitswoche 60 Stunden und mehr, inzwischen hat er eine Halbtagsstelle als Hochschuldozent. Auch Sandra arbeitet mittlerweile wieder in Teilzeit. In Zukunft wollen sich beide aber möglichst ganz auf ihr Unternehmen konzentrieren.
Eine Crowdfunding-Kampagne soll das Startup voranbringen
Möglich machen sollen das Investoren, die jedoch nicht ganz einfach zu finden sind. Viele konzentrieren sich auf Tech-Themen, auch die meisten Förderprogramme und Acceleratoren eignen sich nicht für einzigNaht. Deshalb soll bald eine Crowdfunding-Kampagne den erforderlichen Schub bringen. Die fungiert zugleich als Test um festzustellen, welche Bedürfnisse die Kunden haben. Der Fokus soll zunächst auf den sogenannten Sondenkindern liegen. Hier sind Eltern besonders dankbar, wenn ihre Kinder in der Kleidung von einzigNaht endlich „normal“ aussehen.
Aber sind „normal“ und „behindert“ überhaupt noch zeitgemäße Begriffe und Kategorien? Die Brunners sprechen bewusst von Behinderung, weil sie nichts beschönigen wollen. Zugleich setzen sie sich für mehr Akzeptanz und Inklusion ein. Sollte einzigNaht zum Erfolg werden, kann Sandra natürlich nicht mehr alle Stücke selbst an ihrer Nähmaschine zu Hause fertigen. Geplant ist deshalb eine Nähwerkstatt, in der Behinderte und Nichtbehinderte zusammenarbeiten. Alle können dort ihre besonderen Fähigkeiten einbringen.
Viel postives Feedback, auch das Fernsehen war schon da
Die Resonanz auf einzigNaht war von Beginn an positiv, von vielen Seiten kamen Anfragen, beispielsweise von Näherinnen, wie man seinen Beitrag leisten könne. Verstärkt hat sich das seit dem ersten Platz beim Businessplanwettbewerb Gründergeist. Durch unseren Beitrag über den Erfolg wurde RTL Nord auf die Geschichte aufmerksam und hat inzwischen einen kurzen Film über die Brunners ausgestrahlt. Dort ist unter anderem zu sehen, wie Laura aufmerksam zuhört, als ihre Schwester Yasmina Bratsche spielt. WBS-Kinder sind nämlich überdurchschnittlich musikalisch und haben ein besonders ausgeprägtes Rhythmusgefühl. Jeder Mensch hat eben etwas, das ihn besonders macht.